Samstag, 3. August 2002



MASKENKUNST OHNE MASKE

Das japanische Kabuki- Theater. Von HORST HAMMITZSCH. Atlantis Heft 7, Juli 1953
Wenden wir unseren Blick den Lebensäußerungen der vielgestaltigen japanischen Künste zu, so ist es immer wieder jene auffällige Eigenwilligkeit, die uns, wenn wir überhaupt ein Empfinden für das fernöstliche Gestalten haben, beeindruckt. Es erscheint schwer, die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit zu zeichnen. Wo liegt sie wohl? Diese Frage bedrängt uns, als wir zusammen mit einem japanischen Arzte in der Künstlergarderobe seines Freundes, des Schauspielers Nakamura Tokizo, sitzen. Herr Nakamura sitzt vor einern kleinen schmalen Standspiegel, der auf dern mit japanischen Fußbodenmatten, Tatami, ausgelegten Fußboden steht. Er ist mit dern Abschminken beschäftigt, und während uns einer seiner Gehilfen den Tee reicht, fließt das Gespräch, diese und ähnliche Fragen berührend, hin und her. Uns erscheint es eigenartig, daß eine solche Frage für den japanischen Künstler niemals zu einern Problem wurde, weder für den Maler, noch für den Bildhauer, noch für den Schauspieler, noch für die Meister der vielen anderen Künste. Auch die Schauspielkunst beschreitet hier in Japan einen Weg, der fern der wohlbekannten Bahnen verläuft. Von der Kunst der Darstellung auf den europäischen Bühnen sprechen wir, wo der Schauspieler seine Gestalten im Leben sucht und seine Rolle diesern nachgestaltet. Er spielt das lebendige Leben. Er spielt einen Faust, einen Torquato Tasso; seinen Faust, seinen Torquato Tasso. Wie anders auf der japanischen Bühne : Hier sucht der Schauspieler seine Gestalten nicht im Leben, sondern er selbst formt sich urn nach dern zu gestaltenden Typ. Auch wenn er sein Spiel darbietet, ohne - etwa wie beim No-Spiel - eine Maske vorzubinden, trägt er doch die Maske eines Typs. Er spielt eine Rolle nicht - er stellt sie dar. «Sehen Sie», so wendet sich Herr Nakamura gegen uns, «ich kann nicht einen Naozane oder eine Sagami so spielen, wie es mir jeweils einfallen möchte. Jede Bewegung, jede Geste, die ich ausführe, ja jedes Muskelspiel meines Gesichtes dürfen die feste Form des darzustellenden Typs nicht zerreißen. Sie müssen innerhalb dieser Form liegen, einer Form, die seit Generationen feststeht, traditionsgebunden an die Träger dieser Rolle weitergegeben wurde von ihren Meistern und Lehrern. » Und hier liegt wohl die Ursache und Wurzel jener so eigenartigen Kraft und Eindringlichkeit, die aus dern japanischen Spiel spricht. Es ist nicht die Wirklichkeit, die Einfluß auf den Stoff gewinnt, ihn gestaltet, sondern der Stoffist es, der die Wirklichkeit erahnen läßt. Nicht das offenbarte Antlitz des nackten Lebens - nein, die Schwarz- und Weißzeichnungen der Gegenwirkungen sind es, die der japanischen Darstellungskunst auf der Bühne die nachhaltige Kraft geben. Wir werfen dagegen ein, daß uns das Spiel oft als zu übertrieben in seiner Darstellung und der Wirklichkeit gegenüber als zu verzerrt erscheint. Herr Nakamura hält uns entgegen: «Wenn wir Schauspieler das, was Sie als Wirklichkeit sehen wollen, verzerrt, ich möchte lieber sagen, überdeutlich, überlebensgroß darstellen, so wollen wir dadurch eben menschliches Denken und Fühlen in seinen feinsten Regungen dern Zuschauer, denn auf das Schauen kornmt es aufs erste an, sichtbar werden lassen. » Unser Freund, der Arzt, der sich auch in der europäischen Literatur gut auskennt, fügt hinzu: «Vielleicht dürfen wir hier nicht vergessen, daß wir Japaner keine Dramatiker im eigentlichen Sinne haben. Unseren Dramatikern fehlt es an der Fähigkeit, den Stoff, den das wahre Leben ihnen schenkt, sprachlich in eine Form zu bringen, in eine gehobene Form. An die Iphigenie Ihres Goethe oder an dessen Faust denke ich dabei.» Und erfährt fort: «Es ist aufunserer Bühne wohl erst die Darstellungskunst des jeweiligen Schauspielers, die dern Werke eine gesteigerte Form gibt, geben kann. Schauen Sie sich eins unserer Bühnenwerke an und lesen Sie es - der Vergleich wird das deutlich werden lassen. Der Schauspieler erst paßt sich in die gegebene Idee hinein, die durch einen bestimmten Typ verkörpert wird und läßt diesen lebendig werden. » Die Rolle auf der japanischen Bühne ist Typus, ist historisch gebunden und somit - unwandelbar. Zwar wird sie aus dern Gefühl heraus geformt, aber dieses Formen erfolgt im Sinne einer blutgebundenen Tradition. Es ist eben wohl jene seit Generation und Generation festliegende Form der Gesten und Bewegungen, die auf uns Europäer so eigenartig, fremd und doch fesselnd wirkt. Herr Nakamura scheint ein wenig nachzudenken, dann ergreift er das Wort : « N ur größte Selbstzucht, härteste Schulung und jahrzehntelangwährende Ausbildung geben uns diese Beherrschung der einzelnen Bewegungen, an die jede Geste gebunden ist. Hier wirken sich die Lehren alter Schauspielergeschlechter aus. » Der japanische Schauspieler des Kabuki, des klassischen Schauspiels, trägt keine Maske - es sei denn, man bezeichnet die Schminkmaske als eine solche -, aber trotzdern wird sein Mienenspiel von einem maskenhaften Ausdruck beherrscht. Dieser Ausdruck wird bestimmt durch den Typ der Rolle; niemals geht er während des Spiels verloren. Eine Darstellung der Gefühlswandlungen wie Freude, Kummer, Schmerz, Zorn durch das Mienenspiel, in der Form der europäischen Bühne, kennt der japanische Schauspieler nicht. Gefühlsregungen dieser Art erfahren nur eine feine Andeutung - ein Auf- und Niederzucken der Augenbrauen, ein Herabsenken der Mundwinkel, ein Verstellen der Augäpfel - das sind die Ausdrucksmittel.
Diese ausgesprochene Kargheit des Ausdrucks, allerhöchstens verstarkt, unterstrichen durch ein Anrucken des Körpers, ein Stillestehen, geben der Darstellung doch starkste Wirkung. Wie sehr der Schauspieler von solchen Gesetzen beherrscht wird, das hatte uns das Verhalten des Herrn Nakamura vor seinem Auftreten im vorhergegangenen Stück gezeigt. Er spielte dort eine Frauenrolle. Als wir uns beim Ankleiden und Schminken mit ihm unterhielten, war er noch der Künstler bei der Vorbereitung auf seinen Auftritt. Als er fertig geschminkt und gekleidet sich erhob und die Garderobe verließ, da war er plötzlich eben jene Hofdame, die er darzustellen hatte- ganz weibliches Wesen in Haltung, Gebarde und Sprache, obwohl er noch nicht auf der Bühne stand. Er spielte nicht, er war etwas. Der Frauendarsteller - Onnagata - verkörpert gleichzeitig eine der Haupteigenschaften des japanischen Theaters, des Kabuki, namlich die formale Gestaltung, die im Gegensatz zu dem psychologischen Aufbau der Handlung auf unseren Bühnen steht. Oder wie unser Freund, der Arzt, es ausdrückt: «Wir gehen in das Theater, um unsere Augen zu erfreuen - unser Herz, das wird erst an zweiter Stelle berührt. Seami, der Großmeister des No-Spieles, spricht, wie Sie wissen, von zwei sich gegenüberstehenden Begriffen, die die Grundlage unserer Darstellungskunst ausmachen: Naturnachahmung und Blüte. Davon ist wohl die Natumachahmung die Grundlage des künstlerischen Ausdrucks, aber erst die Blüte, die ästhetische Sinngebung, ist es, die uns Zuschauern den ästhetischen Genuß geben kann.»
Wir mußten bei diesen Worten unwillkürlich an das japanische Theaterpublikum denken, das sich auch von dem europaischen wesentlich in seiner Haltung unterscheidet. Jeder Japaner, der ein Theater besucht, kennt den Inhalt der Dramen, die über die Bühne gehen. Er kennt aber nicht nur ihren Inhalt und ihre handelnden Personen, er weiß auch um deren Vor- und Nachgeschichte. Aus diesem Grunde ist er niemals voreingenommen, denn er erwartet keinerlei Überraschung aus der Handlung heraus. Nichts lenkt ihn ab, die Darstellung des ihm bekannten Stückes zu genießen, da für ihn das Stück allein ein darzustellendes Objekt ist. Das ist auch der Grund, daß die Programme der japanischen Bühnen nur einzelne Szenen aus den verschiedensten Dramen aufweisen, gewissermaßen die Höhen ihrer Dramatik. Nun ist aber wohl nichts natürlicher, daß dem Zuschauer bei dieser genauen Kenntnis des Inhalts der Stücke die kleinsten Verschiedenheiten, Abweichungen in der Darstellung auffallen. Somit erwachst dem Schauspieler als höchste Aufgabe, die historisch gebundenen Charaktere der Rollen zu wahren, lebendig und doch rollenwahr zu sein durch die Eigenart seiner ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel, denn alles andere steht unwandelbar fest : Szenerie, Kleidung, Maske, sie alle folgen naturwahr ihren historischen Vorbildem. Und die gleichen Gesetze gelten auch für die sprachliche Formung der Rollen. So wie ihr Typ auch ohne Maske maskenmaßig festliegt, so ist auch die sprachliche Darstellung an eine genau bestimmte und begrenzte Tonskala gebunden. Nicht Schreien veranschaulicht einen Wutausbruch, nicht Stöhnen ein Schmerzerleiden. Nur ganz bestimmte stimmliche Schwankungen im Rahmen dieser begrenzten Tonskala sind erlaubt. Die Bühnensprache hat ihre eigene Melodie und ist doch nicht Gesang, wie auch die Bewegungen der Schauspieler dem Tanz sehr nahestehen, oh ne jedoch Tanz zu sein. Ein stark rhythmisches Element klingt in Sprache und Bewegung auf. Die japanische Bühne bietet darstellerisch andere Möglichkeiten als unsere Bühnen. Eine Breite von 30 Metern erlaubt andere Inszenierungsmöglichkeiten. Die besondere Eigenart der japanischen Kabuki-Bühne ist der Blumenweg - Hanamichi -, der vom Hintergrund des Zuschauerraums her rechtwinklig auf die linke Bühneseite zulauft. Dieser Weg erlaubt es, die Hand lung des Stückes aus dem eigentlichen Bühnenrahmen, der Geschehensebene, heraus mitten in die Zuschauer hineinzutragen, also gewissermaßen mitten in die Gegenwart zu stellen. Oder aber, Geschehnisse, die von außen her auf die eigentliche Hand lung Einfluß nehmen, über den Hanamichi ganz al1mahlich an die Hand lung heranzubringen. Hier hat das japanische Theater zweifelsohne eine ausgezeichnete Möglichkeit, besondere Akzente zu setzen und der Hand lung Wucht und Greifbarkeit zu geben. Auch auf der rechten Seite der Bühne mündet ein zweiter, schmaler Steg, der sogenannte Kari-Hanamichi, der etwa ein Drittel der Breite des eigentlichen Hanamichi aufweist. Der Name Hanamichi kommt von der alten Sitte her, auf diesem Wege die Geschenke für die Schauspieler, die Hana, niederzulegen. Die Einrichtung der Drehbühne kennt das japanische Theater seit dem Jahre 1758, in welchem der Bühnentechniker Namiki Shozo diese zum ersten Male in Osaka verwendete. Der Beginn des Spiels wird durch das Zusammenschlagen von Harthölzern angezeigt, und ein solches begleitet ebenfalls die sogenannte Mie, besondere Posen eines Schauspielers, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Darstellung hinzulenken. Auch der Musik, die das Kabuki-Spiel begleitet, kommt eine besondere Bedeutung zu. Niemals tritt sie in den Vordergrund, wird zum beherrschenden Element wie in unseren Opem. Sie ist wohl da, aber sie bleibt der Darstellung ganz untergeordnet, diese hie und da sinnverstärkend betonend, aber niemals ihr gegenüber als ein wesensfremdes Element wirkend. Und für die Musik gilt die starke Gebundenheit der Formen in der gleichen Weise wie für Sprache und Darstellung. Man könnte die musikalische Begleitung zu den einzelnen Stücken fast als Mitwirkung eines außenstehenden Erzahlers - vielleicht des Textdichtersempfinden, der auf diese Weise, sei es durch musikalische Untermalung oder in der Person des Begleitsängers, zu den Zuschauern spricht. Geschichtlich gesehen entwickelt sich die japanische Schaukunst in den altesten Zeiten und führt, von kultischen Tänzen herkommend, über religiose Schaustücke zum modemen Gegenwartsdrama in nahezu undurchbrochener Linie. Inhaltlich finden wir als richtungweisend schon frühzeitig den Grundsatz des Kanzen-choaku, eines Belohnen des Guten und Bestrafen des Bosen. Auch die Stücke des japanischen Gegenwartstheaters folgen diesem konfuzianischen Grundsatz gem. Das Leben des Japaners entwickelt sich in einem Rahmenwerk strenger Gesetze, die eine traditionsgebundene Erziehung fest im Volke verankert hat. Was aber stellt die Bühne dem Zuschauer vor Augen, wenn nicht das Leben! So ist es nur natürlich, daß wir hier die gleichen Probleme und deren Losung finden, die das Alltagsleben dem Japaner aufgibt. In den einzelnen Stücken, mögen sie historischer Konflikte, die der Kampf zwischen Liebe und Pflicht, Verpflichtung gegen die Mitwelt heraufbeschwort, die die Treue des Gefolgsmannes gegenüber seinem Lehnsherrn fordert. Und die Losung dieser Spannungen durch einen Sühne- oder Opfertod, durch Doppelselbstmord der Liebenden bilden den Gipfelpunkt japanischer Dramatik, die ihre stärkste Wirkung in den Momenten der «Stille» findet, die den Zuschauer mahnt, das auch er nicht allein steht, daß alle Dinge der Welt, wie Herr Nakamura es ausspricht, in einem geheimnisvollen Gewebe unsichtbarer Faden miteinander verhaftet sind und auch den Menschen miteinbeziehen (Mono no aware). Haben nun die europäischen Einflüsse, die seit dem Jahre 1868 nach Japan kamen, einen Wandel auf dem Gebiete der japanischen Schaukunst gebracht, haben sich durch diese Einflüsse eine Reihe modemer Bühnenund Theaterschulen entwickelt, so ist doch der Erfolg bis heute noch keinesfalls ein durchschlagender gewesen. Unser Freund bemerkt dazu: «Wir Japaner lieben Tanz und Musik, und wir lieben auch das Theater. Aber wir wollen dort nicht den Tiefen menschlicher Regungen in sprachlich wohlgeformten Gedanken nachspüren, nein, wir suchen ein Theater, dessen Grundlage die Kunst der Darstellung ist. Nicht den Sinn des Gespielten wollen wir erraten, nicht ein wirklichkeitsnahes Alltagsleben wollen wir vorgespielt sehen. Wir suchen die Probleme des Lebens auf der Bühne in einer solchen Form, wie sie nicht das Leben selbst, wohl aber eine traditionsgebundene Kunst durch die darstellerischen Fähigkeiten eines im strengen Geiste seiner Lehrmeister erzogenen Schauspielers schaffen kann. »


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utaemon nakamura




fand auf dem flohmarkt heut morgen eine ausgabe des magazins 'atlantis' von 1953 mit einem sehr interessanten beitrag über das japanische kabuki-theater und den im letzten jahr verstorbenen und zum japanischen nationalschatz erklärten darsteller nakamura utaemon (1917-2001).


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